November 2014
Porträtgemälde (Ausschnitt) von Ernst Leitz II aus dem Jahr 1941. (Fotos: Knut Kühn-Leitz, Ralf A. Niggemann)
Leitz

Ernst Leitz II

„Ich entscheide hiermit: Es wird riskiert.“ Mit diesem Satz brachte Ernst Leitz II im Juni 1924 die Markteinführung der von Oskar Barnack entwickelten Kleinbildkamera auf den Weg. Ein neues Buch beleuchtet die Hintergründe. Wir haben mit dem Herausgeber Knut Kühn-Leitz gesprochen.

W3+: Herr Dr. Kühn-Leitz, was hat Sie veranlasst, zur 90-jährigen Wiederkehr dieser bahnbrechenden Entscheidung eine neue Biografie über Ernst Leitz II herauszugeben?

Knut Kühn-Leitz: In der umfangreichen Literatur zur Leica fehlt bisher ein detaillierter Blick auf die großen wirtschaftlichen Risiken, denen sich Ernst Leitz II 1924 mit dem Einstieg in einen neuen Markt auf dem Gebiet der Fotografie ausgesetzt sah. Diese Lücke wird mit der aktuellen Biografie geschlossen. Illustriert mit ausgezeichnetem Bildmaterial beschreiben Fachautoren, wie die Leica immer neue Felder für die Kleinbildfotografie eroberte und schließlich zu einer Ikone der Fotografie im 20. Jahrhundert wurde.

W3+: Was war das Besondere an der Leica?

Knut Kühn-Leitz: Ernst Leitz II hat früh den Trend zu einer kleinen, leichten und handlichen Kamera erkannt, wusste aber auch, dass es mit diesem Apparat allein nicht getan war. Dem Mikroskophersteller war klar, dass eine Stehbildkamera für den perforierten Kino-Rohfilm nicht nur eine äußerst präzise Mechanik und eine hervorragende Optik haben musste. Darüber hinaus war die Entwicklung eines ganz neuen Systems für das Aufnahmeformat von 24 x 36 Millimeter notwendig: hochwertige Geräte zur Vergrößerung eines nur briefmarkengroßen Negativs auf Fotopapier sowie Projektoren für Filmstreifen und später für Dias.

W3+: Warum hat es zehn Jahre gedauert, bis aus dem von Oskar Barnack im März 1914 fertiggestellten Prototyp, der sogenannten UR-Leica, eine fertigungsreife Kamera wurde?

Knut Kühn-Leitz: Ernst Leitz II fotografierte mit dem ersten Modell kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs auf einer Geschäftsreise die Hochhausschluchten in New York. Er war beeindruckt, aber Vieles war noch zu verbessern. Während des Krieges und danach war Barnack mit anderen Entwicklungen so beschäftigt, dass er sich nicht mehr seiner „Liliput Kamera mit Kinofilm“ widmen konnte. Erst 1920 trieb Ernst Leitz II ihre Weiterentwicklung voran und veranlasste den Mathematiker und späteren Leiter der wissenschaftlichen Abteilung, Max Berek, für die Kamera ein Hochleistungsobjektiv zu rechnen. Was Barnack für die mechanische Vollendung seiner Kamera leistete, tat Berek für die Optik.

W3+: War die Leica die erste Kamera für den 35 Millimeter Kinofilm?

Knut Kühn-Leitz: Nein. Schon 1908 gab es erste Versuche, den als Meterware angebotenen Kino-Rohfilm preisgünstig für die Stehbildfotografie zu nutzen. Vor Erscheinen der Leica entstanden weitere zwei Dutzend Konstruktionsentwürfe, Prototypen und Verkaufsmuster. Allen diesen Kameras war kein Markterfolg beschieden. Abgesehen von zahlreichen Konstruktionsmängeln fehlte vor allem die Entwicklung eines fotografischen Systems für das sehr kleine Negativ. Das Aufnahmematerial war für Vergrößerungen auf Fotopapier zu grobkörnig. Von keinem der Konstrukteure ist daher die Entwicklung eines Vergrößerungsgerätes bekannt. Was blieb, war bei einigen Modellen die Möglichkeit, belichtete Positivfilme in kleinem Format zu projizieren.

W3+: Wie sah 1924 das wirtschaftliche Umfeld für Leitz aus, als die Entscheidung zur Einführung eines neuen fotografischen Systems anstand?

Knut Kühn-Leitz: Schon früh war Leitz ein Global Player auf dem Markt für Mikroskope mit Verkaufsniederlassungen in New York, London und St. Petersburg. Ein besonders wichtiger Exportmarkt war Großbritannien mit seinem Kolonialreich. Als England in den Ersten Weltkrieg eintrat, wurde die Leitz-Niederlassung in London geschlossen. Mit Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg 1917 wurde E. Leitz Inc. New York enteignet. Ähnlich erging es der russischen Vertretung nach der bolschewistischen Oktoberrevolution im selben Jahr. Sie wurde liquidiert. Als eine Folge des Ersten Weltkriegs ging die Absatzorganisation auf großen Exportmärkten verloren: Leitz Wetzlar hatte keinen direkten Einfluss mehr auf das Vertriebsgeschehen in den USA und Großbritannien, insbesondere für die notwendigen Investitionen zur Vermarktung des neuen Leica-Systems. In Russland ging die Leitz-Absatzorganisation auf Dauer verloren. Viel gravierender aber war, dass die Entscheidung von Ernst Leitz II, einen neuen Markt für die Fotografie zu erobern, in eine Zeit fiel, in der sämtliche Geldvermögen der Deutschen durch die Hyperinflation und die anschließende Währungsreform Ende 1923 vernichtet worden waren. Es fehlte der Zielgruppe, den anspruchsvollen Amateuren, das Geld zum Erwerb einer teuren Kamera wie der Leica mit dem dazu erforderlichen Zubehör.

W3+: Mit welchen großen Unternehmen der Kameraindustrie musste Leitz konkurrieren?

Knut Kühn-Leitz: Die Barrieren für den Eintritt in den Kameramarkt lagen für den Newcomer Leitz hoch: Zeiss beherrschte den europäischen und Kodak den amerikanischen Kameramarkt. Durch den Zusammenschluss von vier deutschen Kamerafirmen unter der Leitung von Carl Zeiss im Jahre 1909 entstand die Internationale Camera Actiengesellschaft (ICA) in Dresden, die 1920 2.200 Mitarbeiter beschäftigte. In den USA beherrschte Kodak mit seinen einfachen Rollfilmkameras schon früh den amerikanischen Fotohandel. Mitte der 1920er Jahre hatte Kodak weltweit über 20.000 Mitarbeiter.

»Die Vision von Ernst Leitz II, dass der Kleinbildfotografie die Zukunft gehört, sollte in Erfüllung gehen. Es dauerte zwar einige Jahre, bis rentable Stückzahlen verkauft werden konnten. Die Weiterentwicklung der Kamera war rasant. Mit der wachsenden Zahl von Wechselobjektiven und dem wesentlich verbesserten Aufnahmematerial eroberte die Leica immer neue Felder der Fotografie und wurde schließlich zu einer Ikone des 20. Jahrhunderts.«

Knut Kühn-Leitz

W3+: Konnte die Leica mit den damals vorhandenen Filmen bereits ihre herausragende Bildqualität unter Beweis stellen?

Knut Kühn-Leitz: Mit dem nur begrenzt verwendbaren Aufnahmematerial war das nicht möglich. Lassen Sie mich dazu die beiden bekannten Schrittmacher der Kleinbildfotografie zitieren. Paul Wolff schrieb: „Normaler, damals noch wenig orthochromatischer, dazu nicht lichthoffreier Kinofilm in der Leica – es war ein Kreuz. Ja, zu Postkartenbildchen langte es eben ... Es fehlten alle Voraussetzungen von Seiten der Photochemie, die es ermöglicht hätten, die geforderte Vergrößerung der kleinen Originale mit Erfolg durchzuführen.“ Und Curt Emmermann berichtete: „Man darf nicht vergessen, dass wir mit der Leica nicht gleichzeitig auch die für sie besonders geeigneten Aufnahmematerialien bekamen. Wir haben zunächst mit Filmen arbeiten müssen, die mit modernen Erzeugnissen hinsichtlich Allgemein- und Farbempfindlichkeiten und der Körnung überhaupt nicht zu vergleichen sind.“

W3+: Was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Einschränkungen?

Knut Kühn-Leitz: Die Filme hatten eine sehr geringe Empfindlichkeit von nur 4/10 bis 7/10 DIN. Das führte je nach Tageszeit und Bewölkung sowie dem Einsatz von Filtern zu langen Belichtungszeiten. Um Bewegungsunschärfen zu vermeiden, war ein Stativ notwendig – und das war nicht im Sinne Barnacks, der die spontane Livefotografie anstrebte. Eine Steigerung der Empfindlichkeit mit neuen Emulsionen war nur mit größerem Korn und verringerter Auflösung zu erreichen. Die Filme hatten zudem eine sehr steile Gradation, feine Helligkeitsabstufungen wurden nicht sichtbar. Die unterschiedliche Farbempfindlichkeit der verschiedenen Filme sowie einzelner Emulsionen sorgten für weitere Verfälschungen: Hohe Überempfindlichkeit für Blau, starke Unterempfindlichkeit für Rot ließen blauen Himmel weiß und rote Lippen schwarz erscheinen. Zur Korrektur mussten also Gelbfilter unterschiedlicher Dichte verwendet werden. Dadurch verdoppelte oder vervierfachte sich die Belichtungszeit. Außerdem hatten die Filme keinen Lichthofschutz. Es bildete sich bei jedem abgebildeten Lichtpunkt eine ringförmige Überstrahlung. Schließlich hatten die unbelichteten Filme nur eine geringe Lebensdauer.

W3+: Inwieweit war also der Erfolg der Leica von der fotochemischen Industrie abhängig?

Knut Kühn-Leitz: Der Markterfolg der Leica und damit der Kleinbildfotografie war in besonderem Maße von den Entwicklungsanstrengungen der großen Firmen der Fotochemie, Agfa und Kodak, abhängig. Kleinere Unternehmen wie Perutz waren zwar in der Lage, verschiedene Mängel wie den „Haloeffekt“ zu beseitigen. Das größte Problem lag aber in der Entwicklung von Emulsionen, die eine deutliche Steigerung der Filmempfindlichkeit brachten, ohne das störende Korn zu vergrößern. 1924 konnte bei der Entscheidung zur Serienproduktion der Leica niemand sagen, ob und wann Agfa oder Kodak sich dieses Problems annehmen würden, da die Optimierung ihrer Kino-Roh- und Rollfilme – die großen und rentablen Umsatzträger – eine hohe Priorität hatten. Man wollte verständlicherweise erst einmal abwarten, ob der Markt das Kleinbildformat akzeptieren würde. Es hat nach Einführung der Leica über sieben Jahre gedauert, bis 1932 mit dem Isochrom-Film von Agfa ein deutlich empfindlicherer und zugleich feinkörniger Schwarzweiß-Film zur Verfügung stand. Erst damit konnte die wirkliche Leistungsfähigkeit der Leica mit gestochen scharfen Vergrößerungen im Format 30 x 40 cm und größer nachgewiesen werden. In der Folgezeit wurde Leica zum Schrittmacher immer besserer Emulsionen. Davon profitierten nicht nur Leitz und die Fotochemie selbst, sondern letztlich auch die Konkurrenzprodukte zur Leica.

W3+: Eine der wichtigsten Fragen war sicherlich, wie sich der Fotohandel Mitte der 1920er Jahre bezüglich der Kleinbildfotorafie entscheiden würde.

Knut Kühn-Leitz: Das ist richtig. Denn was nützte Ernst Leitz II eine noch so gute Kamera mit einem komplett neuen fotografischen System, wenn dem Mikroskopbauer die für ihn bislang nicht relevante Vertriebsstrecke für Amateurfotografen fehlte und diese weltweit von zwei mächtigen Konzernen, Carl Zeiss und Eastman Kodak, beherrscht wurde. Die Umsätze des Fotohandels waren in Deutschland nach der Währungsreform 1924 auf ein bisher nicht gekanntes Tief gefallen. Das Angebot konzentrierte sich auf einfache Kameras im unteren Preissegment. Erschwerend kam hinzu, dass der Handel so gut wie kein Interesse hatte, das noch florierende Geschäft mit Kontaktkopien von Platten oder Rollfilmen durch eine neue Vergrößerungstechnik für Negative im Briefmarkenformat zu ersetzen. Es blieb die Hoffnung, dass genügend durch die Werbung angesprochene Amateure die Leica in Wetzlar oder bei einigen Händlern bestellen, dann in der eigenen Dunkelkammer die belichteten Filme entwickeln und die Negative selbst vergrößern. Wie groß die Zahl dieser Interessenten sein würde, war nicht abzuschätzen.

W3+: Was waren die Beweggründe von Ernst Leitz II, trotz dieser großen Risiken die Serienfertigung der Leica zu starten?

Knut Kühn-Leitz: In der Tat rieten die engsten Mitarbeiter, verantwortlich für Fertigung, Vertrieb und Finanzen, ihrem Chef von dem Vorhaben ab. Es erschien vielen als ein „Ritt über den Bodensee“. Ausschlaggebend waren für Ernst Leitz II soziale Gründe. Er meinte: „Hier handelte es sich um eine Möglichkeit, unseren Arbeitern mit dieser kleinen Kamera – wenn sie hält, was ich mir von ihr verspreche – in den Jahren der Depression Arbeit zu beschaffen und sie damit durch die kommende schwere Zeit hindurch zu bringen.“ Die Vision von Ernst Leitz II, dass der Kleinbildfotografie die Zukunft gehört, sollte in Erfüllung gehen. Es dauerte zwar einige Jahre, bis rentable Stückzahlen verkauft werden konnten. Mehr und mehr Fotohändler erkannten den Trend zur Kleinbildfotografie. Die Weiterentwicklung der Kamera war rasant. Mit der wachsenden Zahl von Wechselobjektiven und dem wesentlich verbesserten Aufnahmematerial eroberte die Leica immer neue Felder der Fotografie und wurde schließlich zu einer Ikone des 20. Jahrhunderts.

Ernst Leitz II
„Ich entscheide hiermit: Es wird riskiert.“
…und die Leica revolutionierte die Fotografie.

Hrsg. Knut Kühn-Leitz
Heel Verlag, Königswinter
Hardcover mit Schutzumschlag
280 Seiten mit über 200 Abbildungen
Format 218 x 285 mm
ISBN 978-3-86852-941-8
29,95 €