Juli 2015
Fotos: Ralf A. Niggemann
Phantastische Bibliothek

Die Zukunft erfinden

Die Phantastische Bibliothek in Wetzlar nutzt ihre Schätze, um Ideen für künftige Entwicklungen in Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft zu generieren. Das jüngste „Projekt Zukunft“ ist eine Kooperation mit dem Wetzlar Network.

Die Welt der Science Fiction ist voll von technologischen Ideen, Szenarien und Werkzeugen, die erst Jahrzehnte später Wirklichkeit werden. Die Idee geostationärer Satelliten hatte der Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke bereits 1945 beschrieben. Weltumspannende Kommunikationsnetzwerke und Mobiltelefonie gab es in der Science-Fiction-Literatur lange vor dem digitalen Zeitalter. Und dann gibt es ja noch Technologien, auf die man bis heute eine passende Antwort sucht: zum Beispiel dieser eigenartige Stab, der in der deutschen Synchronfassung von „Men in Black“ einfach nur „Blitzdings“ heißt. Jeder weiß, dass der Neutralisator das Gedächtnis komplett ausradiert. Aber niemand kann sagen, wie er funktioniert. Wahrscheinlich hat der Zauberstab auch deshalb keinen richtigen Namen.

Blick in fantastische Welten für neue innovative Produkte

Die Faszination für solche Erfindungen oder Innovationen ist bis heute ungebrochen. Und die Science-Fiction-Literatur liefert dafür jede Menge Vorlagen. Dieses Potenzial zu nutzen, ist ebenso naheliegend wie verlockend: Literatur als Schatzkammer für neue Technologien und Produktideen. „Der Blick in fantastische Welten kann durchaus dabei helfen, traditionelle Denkmuster aufzubrechen und den Blick für neue innovative Produkte zu öffnen“, erklärt Thomas Le Blanc, Gründer und Vorstand der Phantastischen Bibliothek Wetzlar, „weil hier beim Erdenken von Lösungen weder bewusst noch unbewusst Grenzen gesetzt werden.“

Natürlich sind Science-Fiction-Autoren, anders als Wissenschaftler und Techniker, nicht an realgesellschaftliche Vorgaben gebunden. Es steht ihnen offen, ihre Ideen in völlig neue Bezugssysteme zu setzen. Trotzdem wäre es ungerechtfertigt, Science Fiction als eine bloß hypothetisch-spekulative Spinnerei abzutun. „Im Grunde machen die Erfinder von Science Fiction nichts anderes als die Produktentwickler und Trendscouts in den modernen Unternehmen: Sie schließen aus aktuellen Daten auf denkbare zukünftige Entwicklungen, um mit den daraus abgeleiteten Möglichkeiten und Konsequenzen zu spielen und sie im fiktiven Kontext neu anzuwenden“, so Le Blanc.

Das interdisziplinäre Zukunftsprojekt „Future Life“

Aus diesem Gedanken heraus hat er das interdisziplinäre Zukunftsprojekt „Future Life“ ins Leben gerufen. Erstmals wird hier eine umfassende Erhebung und Systematisierung des enormen Ideenpotenzials vorgenommen, das in der Science-Fiction-Literatur verborgen liegt, so Le Blanc: „Wir machen jene Ideen in der Literatur ausfindig, deren Umsetzung in einem Zeithorizont von 10 bis 30 Jahren möglich erscheint, und geben sie an innovative Unternehmen weiter.“

Erfolgreich angewendet wurde die Methodik von „Future Life“ bereits in den Jahren 2003 bis 2005 im Rahmen einer Auftragsforschung für das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Unter dem Label „Verkehrssysteme der Zukunft“ konnte das Innovationspotenzial der Science Fiction für das Thema Mobilität eindrucksvoll belegt werden. 2015 wurde für das Hessische Wirtschaftsministerium eine Studie zu nanotechnischen Ideen in der Science-Fiction-Literatur erarbeitet sowie für einen europäischen Haustechnikkonzern ein Zukunftsszenario zum „smart home“ entwickelt. Zuletzt hat Le Blanc auf einer Tagung der Bremer Wirtschaftsförderung einen Einblick in die Arbeitswelt der Zukunft gegeben.

Science-Fiction-Literatur als Quelle der Inspiration

Das jüngste Projekt der Phantastischen Bibliothek ist eine Kooperation mit dem Wetzlar Network. Die Veranstaltungsreihe mit Titel „Projekt Zukunft“ schöpft aus der Science-Fiction-Literatur als Quelle der Inspiration und ist ebenfalls interdisziplinär ausgerichtet. Die geladenen Experten kommen aus unterschiedlichen Bereichen der Wirtschaft und Wissenschaft. Sie referieren über extraterrestrische Lebensformen und Materiezustände, über Aliens und andere Wesen in vermeintlich lebensfeindlichen Regionen, aber auch über die Möglichkeiten eines globalen Innovationsmanagements. Erst jüngst erläuterte Prof. Frank Zebner von der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, warum und wie Design die Zukunft antizipiert. Der Wetzlarer Architekt Erhard K. Breidenstein sprach darüber, wie die neuen Medien die Gestaltung unseres Arbeitsplatzes heute und in Zukunft verändern werden.

Im Anschluss an die inspirierenden Vorträge wird munter weiterdiskutiert: über die Zukunft im Allgemeinen und Besonderen, in Technik, Wissenschaft und Literatur. Und man erlebt, wie die Phantastische Bibliothek Wetzlar selbst bei gestandenen Entwicklern, Entscheidern und Top-Managern den Blick auf die Zukunft verändert. Sie staunen – und verlassen das Haus mit großen Augen.

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